Anmerkung: Hier werden nur interessante Zitate aus den 400 Seiten umfassenden Memoiren meines Großvaters, einem deutschen Kommunisten in der DDR, veröffentlicht.
Kassette Nr. 1, Seite 1
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Als ich 10 Jahre alt war, das war 1937, also noch in der Volksschulzeit, wurde ich wie alle meine Klassenkameraden in das deutsche Jungvolk aufgenommen. Das war die Jugendorganisation der NSDAP. Wir trugen als Uniform eigenartig hellbraune Hemden, ein schwarzes Tuch, das wie ein Schlips um den Hemdkragen gelegt war und vorn unter dem Hals mit einem aus Lederriemen geflochtenen hohlen Knoten zusammen gehalten wurde. Die kurzen Hosen waren aus Cord, sie waren schwarz. Im Winter trugen wir lange schwarze Skihosen, eine schwarze militärisch geschnittenen Jacke und eine Schirmmütze.
An jedem Mittwoch und Sonnabend waren nachmittags mehrere Stunden Dienst. Der Dienst lief militärisch geordnet ab. Es gab Ausbildungen im Zug, der Zug bestand aus ca. 30 Jungen, und die 30 waren wieder in drei Horden zu je rund 10 Pimpfe eingeteilt und Ausbildungen im Fähnlein. Das Fähnlein bestand aus ca. 100 Jungen in drei Zügen. Der Dienst bestand aus Exerzieren, Märschen mit viel Gesang, Geländespielen, politischen Vorträgen durch die Zug- und Fähnleinführer. Es gab auch Heimabende, wo gesungen und gespielt wurde oder wo uns alte Kämpfer der SA und Offiziere der Wehrmacht aus ihrem Leben erzählten. Die Dienste waren oft so angelegt, dass wir durch den Zugführer, er war vielleicht 16, 17 Jahre alt, bei Märschen und beim Exerzieren geschliffen bzw. gedrillt wurden, wie das, das wussten wir, auch in der Wehrmacht der Fall war. D. h. wir mussten stundenlang marschieren, lange Dauerläufe machen, bis manchmal nur noch vier bis fünf laufen konnten, die anderen hatten nach und nach aufgeben müssen, was aber verpönt war. Oder wir wurden beim Exerzieren so lange geschliffen, bis wir alle nicht mehr konnten. Kniebeugen, Liegestütze, Sprungauf nach Marsch, kurze Strecken laufen, dann wieder hinlegen, und das X-mal, bis jeder völlig zerschlagen war. Dann antreten mit höchster Geschwindigkeit. Wenn es nicht klappte, dann wieder „Hinlegen, Auf, Hinlegen, Auf“ usw. und so fort.
Wurde gesprochen oder gemault, „Hinlegen, Auf, Liegestütz“, bis keiner mehr muckste. Dann Heimmarsch mit Gesang. Das alles lief unter dem Motto des Stark- und Zähmachens. Jeder sollte so sein, wie es sich der Führer, Adolf Hitler, von einem deutschen Jungen wünschte. Wir sollten die besten, schnellsten, ausdauerndsten Jungen der Welt sein. Es galt der Spruch „Der deutsche Junge ist hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie ein Windhund.“ Obgleich wir auf unsere Zug- oder Fähnleinführer oft eine gewaltige Wut hatten, brachen sie immer wieder unseren Willen. Wer zu aufsässig wurde, bekam Horden- oder Zugkeile. D. h. der Zugführer klemmte dessen Kopf zwischen seine Beine und der ganze Zug zog vorbei und jeder musste ihm mit der flachen Hand einen kräftigen Schlag auf den Hintern hauen.
Für manchen war das ein gefundenes Fressen, auf diese Weise einem, den er nicht leiden konnte, rechtmäßig eins auszuwischen und grob zu schlagen. Diese und andere Methoden führten auf Dauer „zum Erfolg“. Die „Disziplin“ wurde absolut. Jeder Befehl wurde ausgeführt. Hin und wieder gab es trotzdem Auflehnungen, wenn der Bogen vom Zugführer überspannt wurde. Aber diese Revolten wurden immer unterdrückt und geahndet, manchmal durch andere Züge, die nach Absprache der Zugführer den Revoltierenden überfielen und verprügelten. Es gab auch gemäßigte Zugführer. Einen solchen hatten wir in der Zeit ehe wir, wohl mit 14 Jahren, in die HJ, in die Hitlerjugend, übernommen wurden. Er war umgänglicher, nicht so arrogant und stellte nicht so die Führernatur heraus. Im Prinzip liefen die Dienste zwar ähnlich wie bisher ab, aber es war alles etwas verhaltener. Wir führten vor allen Dingen viele Geländespiele durch. Es gab Mutproben, abenteuerliche Situationen, Erzählungen und Lieder. Uns Jungen gefiel das, wir waren angesprochen und wurden angespornt.
In dieser Zeit wurde ich Hordenführer. Zu einer Horde, das sagte ich vorher schon, gehörten acht bis zehn Pimpfe. Ich hatte die Pimpfe über die Dienste zu benachrichtigen, die Anwesenheitsliste zu führen, fungierte als Anführer der Horde bei Geländespielen, beim Exerzieren usw. Ich kann nicht sagen, dass ich ungern zum Dienst ging. Heute weiß ich, dass uns die faschistische Ideologie raffiniert eingeflößt wurde. Nationalismus, Germanentum, Herrenmenschendünkel, Rassenhass usw. wurden uns verbrämt mit Volksliedern, Heldensagen, Kampfliedern, sportlichen Wettkämpfen, Erzählungen aus dem Ersten Weltkrieg, Romantik am nächtlichen Lagerfeuer usw. und so fort beigebracht.
Wir, auch ich, waren stolz, deutsche Jungen zu sein, dem deutschen Volk anzugehören, das das beste, klügste, treueste, edelste war. Wir waren die Jugend des Führers. Wir gehörten ihm, waren Teil der großen Volks- und Schicksalsgemeinschaft. Das war zwar alles sehr diffus, hatte aber auch schleichende Wirkung. So z.B. wenn wir bei großen Aufmärschen des Stammes oder Bannes – Stamm, das waren mehrere Fähnlein des Jungvolks, und der Bann bestand aus mehreren Gefolgschaften der Hitlerjugend – bei Tag oder im Dunkeln oder während der Nacht sogar, hier meist mit Fackeln sangen: „Jugend, Jugend, wir sind der Zukunft Soldaten. Jugend, Jugend, Träger der kommenden Taten. Ja, durch unsere Fäuste fällt, was sich uns entgegenstellt. Führer, wir gehören Dir, wir Kameraden, Dir. Unsere Fahne flattert uns voran. In die Zukunft ziehen wir Mann für Mann. Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.“ Und zum Schluss: „Ja, die Fahne ist mehr als der Tod.“
Oder wir sangen Lieder bei entsprechenden Aufmärschen: „Wir sind nicht Bürger, Bauer, Arbeitsmann, haut die Schranken doch zusammen, Kameraden. Uns fehlt nur eine Fahne voran. Die Fahne der jungen Soldaten. Vor uns marschieren mit sturmzerfetzten Fahnen die toten Helden der jungen Nation, und über uns der Helden Ahnen. Deutschland, Vaterland, wir kommen schon.“ An dieses Lied kann ich mich sehr genau erinnern, weil für mich immer irgendwie unklar war, was das da bedeuten sollte, dass über uns der Helden Ahnen schwebten. Das war wirklich eine sehr mystische Angelegenheit, aber das Lied, mit vielen Hunderten gemeinsam gesungen, und dann dieser Abschluss „Deutschland, Vaterland, wir kommen schon.“, das hatte doch eine bestimmte Wirkung. Das war wie gesagt ein ausgeklügeltes Programm der Verdummung und Verhetzung der Jugend. Ich merkte es nicht, noch nicht. Wie mag es meinem Großvater zu Mute gewesen sein, als ich ihm einmal klarmachen wollte, dass der Führer gut ist, dass er für das deutsche Volk sorgt. Vielleicht zeigte ich ihm sogar bei dieser Gelegenheit ein Bild des Führers, das ich von einem anderen Bild mit Bleistift nachgezeichnet hatte. Ich weiß nur, dass Opa sehr ärgerlich und unwirsch wurde. Er sagte aber an dieser Stelle nichts Besonderes. Eigentlich hätte ich mir seine Antwort denken können, denn bei ihm und Oma, wie auch bei uns, hing zu entsprechenden Anlässen keine Nazifahne zum Fenster heraus.
Die schönsten Erinnerungen aus dieser Zeit, also der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, habe ich an meine Unternehmungen als Junge in den Wäldern und der Umgebung des Gartens meiner Eltern und Großeltern mütterlicherseits. Wenn ich meine Pflichten oder Aufträge im Hinblick auf Gartenarbeiten erfüllt hatte, streifte ich stundenlang durch die Felder und Wälder oder spielte in der nahe gelegenen Kiesgrube, die zugleich Schuttgrube war. Manchmal hatte ich einen Jungen aus einem Nachbargarten zum Gefährten, aber meist war ich allein unterwegs.
Ende Teil 1